100 Jahre Betriebsrat - Was uns 1918 lehren kann

In der heutigen Zeit wird gerne von schnellem Wandel, unsicheren Marktaussichten, disruptiven Technologien oder kurz von der „VUCA Welt“ gesprochen. Das Akronym VUCA wurde als Sammelbegriff für die Zeit nach dem Kalten Krieg (90er Jahre des 20. Jahrhunderts) von der US-Armee geprägt. Später erweiterte sich der Begriff VUCA auch auf andere Bereiche wie der strategischen Unternehmensführung und beschreibt heute schwierige Rahmenbedingungen für Unternehmen.

In persönlichen Gesprächen mit Kollegen aus global agierenden Unternehmen erfahren die Autoren häufig, dass Agile durchgeführte Projekte nur „fake agile“ sind. Auf vielen Fachkongressen in Deutschland und Europa häufen sich dazu die Vorträge von Projekten aus bekannten Unternehmen, die diese Eindrücke bestätigen. Eine Erfahrung der Autoren kann bereits vorweggenommen werden. Der derzeitige Umgang von Unternehmen mit dem importierten Agile/Lean Mindsets birgt Gefahren. Denn ein unreflektiertes verlieben in diese feel-good-do-good-Kultur ist eine gefährliche Liebschaft für alle Beteiligten.

Obwohl das agile Manifest bereits im Jahre 2001 veröffentlicht wurde und seine Wurzeln (Lean Production – 1985, Extreme Programming – 1995) noch weiter in der Zeit zurückreichen und die großen transatlantischen und transpazifischen Vorbilder unglaublich erfolgreich mit diesen Methoden sind, will die Transformation auf dem europäischen Kontinent nicht so richtig gelingen.

Die Antwort auf die Fragen nach den eigentlichen Ursachen muss also im deutsch-/europäischen Kontext gefunden werden. Dabei sind die eigenen Werte und Erkenntnisse aus der Geschichte zu hinterfragen, zu transformieren und anzuwenden. Das simple Kopieren eines vermeintlich erfolgreichen Konzeptes, wie Agilität und Lean-Management aus einem anderen Kulturkreis in die deutschen Unternehmen kann nach Meinung der Autoren nicht gelingen.

Organisationstheorien haben den Zweck Organisationen, ihr Bestehen und ihre Funktionsweise zu erklären. Zwar sind die spezifischen Herausforderungen unserer Epoche einzigartig, aber ein Blick zurück zum Herbst 1918 hat Lehren für all jene, die an einer Beschleunigung dieser menschenwürdigen Transformation interessiert sind. Hierbei hilft die Analogie, dass das Volk mit seinem Kaiser im deutschen Kaiserreiches wie ein Unternehmen mit seinen Mitarbeitern und Managern zu sehen ist. Durch das systematische Entwerfen und Implementieren von grundlegend neuen und importierten soziale Arbeitsmethoden und Änderungen an der Wertegemeinschaft wurden 1918 die Gefahren einer kulturellen Transformationen der Gesellschaft unterschätzt.

Genau das sind die Gefahren der feel-good-do-good-Kultur, die dann aber auch schädlich für das Unternehmen werden. Denn gestörte Organisationsmethoden („Agile“ und „Lean“), die zum Verzicht der Mitarbeiter auf ein ausgeglichenes Leben führen, sind im Unternehmen kritisch zu hinterfragen.

Die Wirtschaft in Deutschland vor 100 Jahren

Der 18. Januar 1871 war ein bitterkalter Mittwoch, als am Place d'Armes, 78000 Versailles, in Frankreich, der erste deutsche Nationalstaat entstand. Noch nicht einmal siebenundvierzig Jahre später, stand dieses neue Kaiserreich auf dem Spiel. Die Autoren skizzieren mithilfe von der Veröffentlichung von Hartmann Wunderer, wie sich vom 3. Oktober 1918 bis zum 9. November 1918 dieser Nationalstaat abschaffte.

Prinz Max von Baden wird am Donnerstag, den 3. Oktober 1918 vom deutschen Kaiser zum neuen Reichskanzler ernannt. Als bekannt wurde, dass am selben Tag die erste Amtshandlung dieser Regierung ein Vermittlungsgesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow um Waffenstillstandsverhandlungen war, erlebte die deutsche Öffentlichkeit einen Schock. Denn die Bevölkerung war über die wahre Lage an den vierzehn Fronten getäuscht worden und die Vorstellung der Unbesiegbarkeit der deutschen Waffen war weithin verbreitet.

Um das Vertrauen zu retten ordnete Kaiser Wilhelm II. am Montag, den 28. Oktober 1918 eine Parlamentarisierung, sowie eine gewisse Demokratisierung des Reiches an. Aber diese Zugeständnisse konnten das diskreditierte, alte politische System des Kaiserreichs nicht mehr retten. Sogar im Bürgertum sank das Vertrauen auf den Nullpunkt. Angesichts der Lebensmittelknappheit verstärkten sich die sozialen und politischen Unruhen im Reich. Hunderttausende kriegsmüder Soldaten setzen sich von der Westfront nach Osten ab. Damit brach also das Vertrauen des Adels, der Soldaten, der Bürger und der Arbeiter in die bisherige politische Führung zusammen, jedoch war Kaiser Wilhelm II. nicht zu einem Rücktritt bereit.

Nach Massenkundgebungen brachten am Montagabend des 4. Novembers 1918 meuternden Soldaten und Matrosen alle militärischen und öffentlichen Gebäude der Stadt Kiel unter ihre Kontrolle und der erste Vorsitzende Karl Artelt organisierte den ersten Soldatenrat. Nach dem importierten Vorbild der großen brüderlichen Revolution sollten grundlegend neue soziale Wege Änderungen in den Betrieben und der Wertegemeinschaft in Deutschland etablieren.

Als dieser erste gewählte Soldatenrat, demokratische Rechte einforderte, sprang der Funke ins Reich über. Denn in vielen deutschen Reichsstädten übernahmen ähnliche Bewegungen daraufhin die politische Macht. Der Versuch, die Aufstände militärisch niederzuschlagen, scheiterte kläglich. Selbst von der militärischen Führung als „zuverlässig“ eingeschätzte Truppen schlossen sich unerwartet den Aufständischen an. Alle wichtigen gesellschaftlichen Säulen waren in Auflösung begriffen.

Für den weiteren Verlauf ist grundlegend zu verstehen, dass sich die Arbeiter-und-Soldatenräte als legitimierte oberste Exekutivmacht verstanden. Ohne nennenswerte Gewalthandlungen dankten die fürstlichen und königlichen Landesherren rasch ab. Somit kontrollierten die Arbeiter-und-Soldatenräte die kommunalen Verwaltungen in weiten Teilen des Reiches.

Am Samstag, den  9. November 1918 erreichten die Massenunruhen durch einen Generalstreik auch in Berlin einen Höhepunkt. Erneut widersetzte sich der Kaiser allen Aufforderungen abzudanken. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündigte nun eigenmächtig, dass der Kaiser abgedankt habe. In offener und verfassungswidriger Weise ernannte er Friedrich Ebert zum neuen Reichskanzler und verkündete seinen eigenen Rücktritt.

Die Wirtschaft in Deutschland 2020

Im August des Jahres 1806 hatte Kaiser Franz II. die alte deutsche Kaiserkrone verspielt. Im November 1918 geht die neue Kaiserkrone im Staatsstreich, innerhalb von Tagen, verloren. Was für ein Paukenschlag. Tausend Jahre gesellschaftlichen Selbstverständnisses des deutschen Kaiserreichs haben sich damit aufgelöst, doch schon in Kürze werden zwei gesellschaftliche Säulen erneut Stabilität für die nächsten 100 Jahre in Deutschland schaffen.

Wenige Tage nach den Ereignissen, vom stürmischen Herbst 1918, trafen sich führende Repräsentanten der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber waren mit massiven Sozialisierungsforderungen der Arbeiterbewegung konfrontiert. Aus Furcht wollten die Arbeitgeber diesen radikalen Vorstellungen mit einem beachtlichen Entgegenkommen die Spitze brechen. Mit dem sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen wurden die Gewerkschaften von den Unternehmen als „berufene Interessenvertretung“ der Arbeiterschaft anerkannt. Man vereinbarte den achtstündigen Arbeitstag, in den Betrieben mit mehr als fünfzig Arbeitern sollte ein „Arbeiterausschuss“ gewählt werden, aus dem später die Betriebsräte hervorgingen. Gemeinsam mit den Unternehmensleitungen sollte der Arbeiterausschuss die Einhaltung von Tarifverträgen überwachen. Erst mit diesem Entgegenkommen der Unternehmer konnten die Gewerkschaften auf die unmittelbare Sozialisierung verzichteten.

Das Stinnes-Legien-Abkommen führte natürlich zu einem grundlegenden neuen Verständnis zwischen Management und (Sach)arbeiter. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist Europa und Deutschland auf seinem Weg der Mitarbeiterbeteiligung auf Augenhöhe. Dieser Weg hat zu wertvollen gesellschaftlichen Errungenschaften (Gewerkschaften, Arbeitnehmervertretungen, Arbeitnehmerschutz, Gesundheitsschutz u.v.m.) geführt und zu der dominanten Stellung der deutschen Industrie in der Welt beigetragen.

Die Frage der Innovationsfähigkeit muss also in Deutschland und Europa seinen eigenen Weg gehen. Dabei sind die eigenen Werte und Erkenntnisse aus der Geschichte zu hinterfragen, zu transformieren und anzuwenden. Das simple Kopieren eines vermeintlich erfolgreichen Konzeptes, wie Agilität und Lean-Management aus einem anderen Kulturkreis in die deutschen Unternehmen, kann nicht gelingen. Diese neuen Methoden sind in ihrem Kulturkreis gewachsen und haben in diesem Kontext Lösungen geschaffen. Organisationsmethoden („Agile“ und „Lean“) stehen nicht für sich alleine, sondern sind immer in ihrem kulturellen und anthropologischen Zusammenhang zu sehen. Dies ist dem Grunde nach auch eingänglich, denn Organisationsmethoden haben als Zweck, die Zusammenarbeit von Menschen zu strukturieren und zu optimieren. Dies ist in Deutschland vordringlich die Aufgabe der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung.


Holger Klasmeier