100 Jahre Betriebsrat - Unruhige Zeiten

Zitate sind aus dem Buch “Das lange 19.te Jahrhundert” von Franz J Bauer entnommen:

Am 18. Januar 1871 war mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs der erste deutsche Nationalstaat entstanden. 47 Jahre später, am 8. Oktober 1918 schaffte sich dieser dann wie folgt ab:

Als die letzte Regierung des Deutschen Kaiserreichs unter Prinz Max von Baden am 3. Oktober 1918 ein Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson sandte, löste dies in der deutschen Öffentlichkeit einen Schock aus. Die militärische Führung unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg hatte bislang die Bevölkerung über die wahre Lage an den Fronten getäuscht und an der Vorstellung der Unbesiegbarkeit der deutschen Waffen festgehalten.

Um zu retten, was noch zu retten war, verordnete Kaiser Wilhelm II. am 28. Oktober 1918 eine Parlamentarisierung sowie eine gewissen Demokratisierung des Reiches. Aber diese Zugeständnisse konnten das diskreditierte alte politische System des Kaiserreichs nicht mehr retten. Wilhelm II. war nicht zu einem Rücktritt bereit, sondern reiste in das Große Hauptquartier im belgischen Spa, um von dort aus mit kaisertreuen Truppen „Ordnung“ im Reich zu schaffen.

 

So ruhig beschreibt Hartmann Wunderer [1] die Auflösung der deutschen Ordnung im Reich und weiter heißt es,

 

Im Reich verstärkten sich auch angesichts der Lebensmittelknappheit die sozialen und politischen Unruhen. Das Vertrauen in die bisherige politische Führung sank weit über die sozialistische Arbeiterbewegung hinaus bis in bürgerliche Lager auf den Nullpunkt.  Bis zu einer Million Deserteure und Drückerberger setzen sich heimlich [von der Westfront] nach Osten ab.

In Kiel kam es zu Massenkundgebungen, die die Freilassung der Matrosen forderten. Dabei wurde erstmalig ein Soldatenrat gewählt, der demokratische Rechte forderte. Ein Versuch, die Gefangen zu befreien, scheiterte zunächst, aber am 4. November war Kiel unter der Kontrolle der meuternden Soldaten und Matrosen. In anderen Hafenstädten vollzogen sich sehr rasch ähnliche Bewegungen und bald gab es in vielen deutschen Städten Arbeiter-und-Soldatenräte, die jeweils in den Städten die Macht übernahmen. Der Versuch, die Aufstände militärisch niederzuschlagen, scheiterte kläglich, selbst als „zuverlässig“ eingeschätzte Truppen schlossen sich den Aufständigen an.

 

 Alle wichtigen gesellschaftlichen Säulen waren in der Auflösung begriffen. Wichtig für diesen Beitrag ist aber vor allem das politische Verständnis der neuen politischen Akteure:

Diese Arbeiter und Soldatenräte verstanden sich als oberste Exekutivmacht. Sie kontrollierten die kommunalen Verwaltungen, sofern deren Vertreter sich angesichts der Unruhen noch nicht weggeduckt hatten. Ohne nennenswerte Gewalthandlungen dankten rasch die fürstlichen und königlichen Landesherren ab.

Kaiser Willhem II. hatte sich allen Aufforderungen, endlich abzudanken, widersetzt, auch den Apellen seines Reichskanzler Prinz Max von Baden. Dieser verkündigte nun Angesicht der Massenunruhen, die rasch auch Berlin erreicht hatten, eigenmächtig am 9. November, dass der Kaiser abgedankt hatte und ernannte – in offen verfassungswidriger Weise - einen neuen Reichskanzler.

 

Was für ein Paukenschlag - Erst Jahr 1806 hatte Franz II. die „deutsche Kaiserkrone“ niedergelegt, womit das Alte Reich erloschen war – nun wurde die neue Kaiserkrone am 9.11.1918 im Staatstreich niedergelegt.

Wir können mit dem Blick von heute sagen das alles in der Gesellschaft offen war. Doch schon in Kürze sollten nun zwei wichtige gesellschaftlichen Säulen Deutschlands Stabilität ins Land bringen:

Wenige Tage nach diesen Ereignissen trafen sich führende Repräsentanten der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber waren mit massiven Sozialiserungsfoderungen der Arbeiterbewegung konfrontiert und wollten diesen radikalen Vorstellungen mit einem beachtlichen Entgegenkommen die Spitze brechen. Mit dem sogenannten Stinnes-Legien-Abkommen wurden die Gewerkschaften von den Unternehmen als „berufene Interessenvertretung“ der Arbeiterschaft anerkannt, man vereinbarte den achtstündigen Arbeitstag, in den Betrieben mit mehr als 50 Arbeitern sollte ein „Arbeiterausschuss“ gewählt werden, aus dem später die Betriebsräte hervorgingen. Als Gegenleistung verzichteten die Gewerkschaften auf die unmittelbare Sozialisierung. Dieses [erste] Arrangement zwischen Kapital und Arbeit zerbrach indes in den späten 1920er Jahren an der Frage der Arbeitslosenversicherung – eine von vielen Ursachen für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie.


Zum Autor:

Franz Bauer, geboren 1952, Studium der Geschichte und Germanistik in München und seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Regensburg.

Franz J.Bauer
Buch
Das >lange< 19. Jahrundert
Seite 44
ISBN: 978-3150187708