GIG Ökonomie und Digitalwirtschaft ändert unsere Beziehung zur Arbeit

Am 1. Dezember 2020 weist das Bundesarbeitsgericht in eine entscheidende Richtung. Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Das Arbeitsverhältnis stellt in Deutschland ein besonders sensibles Abhängigkeitsverhältnis für den Arbeitnehmer dar und steht daher unter einem besonderen Schutz durch die Rechtsprechung im Arbeitsrecht. Ein ähnliches Bild zeigt sich durch die Gewerkschaftsarbeit der IG-Metall, die sich schon länger an der FairTube Kampagne beteiligt, die im März 2018 von Jörg Sprave gegründet wurde und eine Gewerkschaft für YouTuber werden soll.

Diese Strömungen sind die europäische Konsequenz aus den modernen Entwicklungen der Wirtschaft in den letzten Jahren. Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich Arbeiterräte und Gewerkschaften, um die Rechte des einzelnen Arbeiters zu stärken und gemeinschaftlich organisiert gegenüber den großen Unternehmen zu vertreten. Entsprechend brauchen Wissensarbeiter heutzutage Organisationen und rechtliche Konstrukte, die einen Gegenpol zu den vermeintlich allmächtig agierenden globalen Wirtschaftskonzernen und Wirtschafts-Konstrukten darstellen.

Die Übernahme von asiatischen oder amerikanischen Organisationstheorien in den europäischen Kulturraum nicht so ohne weiteres funktionieren kann. Enorme Renditegewinne der Unternehmen bei der Umsetzung der neuen GIG Ökonomie und der Digitalwirtschaft sind in Europa gesellschaftlich nicht akzeptiert. Bereits Peter Kruse hat in einer Diskussion nach seinem Vortrag im Jahre 2013 auf einem Event der Content- & Community Plattform von Zukunft Personal gesagt: „Wir sind einfach gesellschaftlich in der Situation, dass wir im Moment keine vernünftige Verteilung aus der entstandenen Rendite haben. Das ertragen Menschen auf Dauer nicht so wirklich. Also wir müssen uns grundsätzlich im gesellschaftlichen Kontext unterhalten und wir dürfen hier nicht individualisieren“. In Amerika ist die finanzielle und persönliche Teilhabe an den Unternehmen wesentlich höher als in Europa. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass ein systemisches Versagen einer Organisation individualisiert wird, was dann leider zu persönlichen Tragödien führen kann. So eskalierte am 3. April 2018 eine solche persönliche Tragödie gewaltvoll: „Gegen 12:46 Uhr im Hauptquartier der Video-Sharing-Website YouTube in San Bruno, Kalifornien fand eine Schießerei statt. Ein Creator der Plattform betrat das Gelände durch ein Parkhaus und näherte sich einer Außenterrasse und eröffnete mit einer Schusswaffe das Feuer. Es wurden drei Menschen verwundet, einer davon schwer, bevor sich auch dieser Creator selbst das Leben nahm.“ Der Creator empfand eine Diskriminierung von YouTube gegenüber seinen Kanälen: "Youtube hat meine Kanäle gefiltert, damit sie nicht angezeigt werden!". Youtube hatte zu diesem Zeitpunkt die meisten Videos des Kanals entmonetarisiert und somit dem Creator die Lebensgrundlage entzogen, was mit der Willkür die die Arbeiter im 19. Jahrhundert erlebten vergleichbar ist.

In dem Buch „Capitalism without Capital“ von Jonathan Haskel und Stian Westlake (ISBN 978-0-691-18329-9) stellt Ronald Coase vor diesem Hintergrund 1937 eine täuschend einfache, aber sehr tiefgreifende Frage: Warum gibt es dann eigentlich Firmen? Die Antwort von Coase ist, dass Unternehmen eine billigere Koordinierungsarbeit leisteten als die Märkte selbst. Tägliche Koordinierungskosten werden innerhalb des Unternehmens durch Autorität vermieden. Diese Autorität üben Manager in jeder Organisationsform des Typs „Befehl und Kontrolle“ aus. Diese Argumentation wird auch von Gerichten anerkannt. So hatten z.B. im Jahre 2014 die kalifornischen Gerichte zu entschieden, ob FedEx-Fahrer als Auftragnehmer für FedEx gelten sollen oder als Mitarbeiter des Unternehmens anzusehen sind. Schließlich entschied das Gericht, dass FedEx ein Arbeitgeber ist, gerade weil FedEx den Fahrern sagte, was zu tun ist.

Auch in Deutschland wächst der gesellschaftliche Diskurs seit 1967 als das bis dahin geltende Verbot der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung aufgehoben wurde. Im Verlauf erfuhr die Leiharbeit einen immensen Auftrieb, als die Arbeitsvermittlungen dazu verpflichtete wurden, fortan Arbeitslose auch an Leiharbeitsfirmen zu vermitteln. Die Agenda 2010 deregulierte dann schließlich die Leiharbeit mit der Abschaffung der maximalen Überlassungsdauer von 3 Monaten und der Abschaffung des Synchronisationsverbots. Die Unternehmen haben mittlerweile die Politik bei der Entwicklung des neuen AÜG, das am 1.4.2017 in Kraft trat, unterstützt und damit ihre Antwort auf die Frage „Was ist eigentlich ein Mitarbeiter?“ gegeben und die Gewerkschaften flankierten diese Regelungen mit entsprechenden Tarifverträgen. Die Lösung wird jedoch in der Gesellschaft weithin nicht akzeptiert und sie verstößt vermutlich auch gegen die EU-Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit.

Nach hundert Jahren ist der Befund eindeutig. Zu viele Menschen leben heute wieder in einer Casinowirtschaft vergleichbar mit der am Ende des 19. Jahrhunderts. Zwar gibt es wie damals auch, immer wieder einzelne Gewinner und einzelne Individuen schaffen den Sprung aus der Anonymität und werden z.B. YouTube Star. Jedoch bleibt für viele Menschen in der GIG Ökonomie und der Digitalwirtschaft nur die ungeschützte Abhängigkeit von der Willkür der großen Spieler und wie im Casino lautet die Grundregel – die Bank gewinnt immer und der individuelle Verlust ist vorprogrammiert. Dies stellt auch der YouTuber Alpha Gaming (mit über einer halben Million Abonnenten) und eine bekannte Größe auf der Live-Streaming Plattform Twitch in einem seiner Videos fest und diskutiert die vorherrschenden Umstände. Partizipation war bereits das Thema vor 100 Jahren und muss heute auch wieder intensiv und ernsthaft auf der gesellschaftlichen Ebene diskutiert werden.

Thomas Winz